Der Bundesgerichtshof hat Schadenersatzklagen im Mercedes Abgasskandal mit Beschluss vom 23. Februar 2022 deutlichen Rückenwind verliehen (Az.: VII ZR 602/21). Der VII. Zivilsenat des BGH stellte klar, dass die Verwendung einer sog. Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), die fast ausschließlich im Prüfstand aktiv ist, nicht nur eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellen kann, sondern auch auf eine arglistige Täuschung der Behörden im Zulassungsverfahren schließen lasse.
„Demnach läge bei Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung - anders als beim Thermofenster - eine bewusste Täuschung vor. Dann wäre nicht nur das Kraftfahrt-Bundesamt getäuscht worden, sondern auch die Mercedes-Käufer, die dann Anspruch auf Schadenersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung hätten. Die Entscheidung des BGH ist ein weiterer verbraucherfreundlicher Meilenstein in der Rechtsprechung zum Abgasskandal“, sagt Rechtsanwalt Andreas Schwering.
In dem Fall vor dem BGH ging es um einen Mercedes E 350 d, den der Kläger 2018 als Gebrauchtwagen erworben hatte. Das Fahrzeug ist mit dem Dieselmotor des Typs OM 642 mit der Abgasnorm Euro 6 ausgestattet.
Thermofenster und Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung
Der Kläger machte Schadenersatzansprüche wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen geltend. Neben einem Thermofenster bei der Abgasrückführung käme auch die sog. Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zum Einsatz. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht wies die Klage ab.
Ob es sich beim Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, könne dahinstehen. Zumindest reiche allein die Verwendung eines Thermofensters nicht aus, um von einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung auszugehen, so das OLG. Gleiches gelte auch für die KSR. Selbst wenn es sich bei dieser Funktion um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele, habe der Kläger nicht dargelegt, dass sie im Prüfmodus ein anderes Emissionsverhalten bewirke als im realen Straßenverkehr. Ein Schädigungsvorsatz sei weder beim Thermofenster noch bei der KSR erkennbar. Der Kläger habe daher keinen Anspruch auf Schadenersatz, entschied das OLG Schleswig (Az.: 5 U 125/20).
BGH hebt Entscheidung des OLG Schleswig auf
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers gegen die Entscheidung des OLG Schleswig hatte Erfolg. Der VII. Zivilsenat des BGH hob den Beschluss auf und wies den Fall zur erneuten Verhandlung an das OLG zurück.
Das OLG habe zwar richtig entschieden, dass keine Schadenersatzansprüche aufgrund des Thermofensters bestehen. Es habe aber die hinreichend substantiierten Ausführungen des Klägers zur KSR nicht ausreichend gewürdigt und damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, rügte der BGH.
Es sei davon auszugehen, dass es sich bei der KSR um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, so die Karlsruher Richter. Allein die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung begründe noch keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung. Dies sei jedoch anders, wenn die Funktion den Prüfstand erkennt und sich das Emissionsverhalten des Fahrzeugs daraufhin ändert, um weniger Stickoxide auszupusten. Die Prüfstandsbezogenheit einer unzulässigen Abschalteinrichtung sei ein wichtiges Kriterium für vorsätzliche sittenwidrige Schädigung.
KSR fast nur im Prüfmodus aktiv
Der Kläger habe substantiiert dazu vorgetragen, dass eine solche Prüfstandserkennung vorliege. Demnach erkenne eine Software, ob sich das Fahrzeug im Prüfmodus befindet. Ist das der Fall, werde die KSR aktiviert, um den Stickoxid-Ausstoß zu reduzieren. Diesem Vortrag sei das OLG nicht nachgegangen und habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, so der BGH.
Der Kläger hatte u.a. vorgetragen, dass das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) im Herbst 2018 ein formelles Anhörungsverfahren wegen des Verdachts einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Gestalt der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung gegen Daimler eingeleitet habe. Diese Funktion sei zunächst bei Fahrzeugen mit dem Dieselmotor des Typs OM 651 festgestellt worden. Später sei bekannt geworden, dass sie auch in Mercedes-Fahrzeugen der C-, E- und S-Klasse mit dem Dieselmotor OM 642 verbaut wurde.
Zudem hatte er ausgeführt, dass die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung überwiegend im Prüfmodus aktiv ist und auf ein Sachverständigengutachten verwiesen. In dem Gutachten wird ausgeführt, dass die Motorsteuerung anhand bestimmter Parameter den Prüfstand erkennt und die Kühlmittelsolltemperatur dann auf 70 statt auf 100 Grad regelt, um den Stickoxid-Ausstoß zu senken. Unter realen Betriebsbedingungen werde dann wieder eine Solltemperatur von 100 Grad angesteuert. Ein weitergehender Vortrag sei vom Kläger nicht zu verlangen. Das OLG habe die Anforderungen an ein substantiiertes Vorbringen überspannt, so der BGH.
Hinweis auf vorsätzliche sittenwidrige Schädigung
Sollte die KSR tatsächlich überwiegend im Prüfmodus aktiv sein, spreche dies zudem für eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung, so der BGH weiter. Das wird nun das OLG entscheiden müssen.
„Das OLG Schleswig wird nun in die Beweisaufnahme einsteigen müssen. Nach dem Beschluss des BGH ist nur schwer vorstellbar, dass es an seiner Entscheidung festhalten wird. Der BGH hat die Tür für Schadenersatzansprüche im Mercedes-Abgasskandal weit aufgemacht“, so Rechtsanwalt Schwering.
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